Leseempfehlungen

Leseempfehlung im April von unserer Leserin Helga Seifert

Kein guter Mann  -  Izquierdo, Andreas

Walter ist Postbote mit Leib und Seele. Mit seiner Überkorrektheit und Regelkonformität, die er akribisch auch von anderen fordert, eckt er aber im Privaten sowie Beruflichen ziemlich an. Er ist geschieden, das Verhältnis zu seinen Kindern mehr als angespannt. Seine Chefin möchte ihn einfach nur in den Vorruhestand schicken. Das Maß ist voll, als Walter sich einen Kleinkrieg mit einem unverschämten Kunden liefert.

Als letzter Ausweg bleibt ihm nur die Strafversetzung in die Christkindfiliale der Post in Engelskirchen. Anfangs ist Walter genervt vom neuen Job, aber eines Tages erreicht ihn ein Schreiben an den lieben Gott. Es stammt vom zehnjährigen Ben. Der Junge will nicht, wie sonst üblich, Handy oder Playstation, sondern nur wissen, wie man einen Klempner ruft. Walter antwortet vage und bekommt einen zweiten Brief, in dem Ben den lieben Gott ganz schön zusammenfaltet: Warum hilft er ihm nicht?

Walter beginnt einen Briefwechsel mit Ben - als Gott. Er erfährt immer mehr über das Leben des Jungen, der allein mit seiner depressiven Mutter lebt. Mehr als alles andere wünscht Ben sich einen Freund.

Unterdessen naht Weihnachten, und Walter ist mit seinem eigenen Familiendrama beschäftigt: Die Beziehungen zu seinen Kindern sind kompliziert, geschieden ist er lange schon, und da ist diese schwere Schuld aus seiner Vergangenheit, die ihm einfach keine Ruhe lässt. Vielleicht kann Walter ja Ben helfen - und Ben Walter?

Bald will Walter tatsächlich Gott spielen und als solcher für Ben der ersehnte Freund sein. Doch so leicht ist das gar nicht, was Gott so alles zu richten hätte ... Und da ist ja auch noch Walters eigene Vergangenheit, in der so manches schief gelaufen ist.

Man lernt Walter als jungen Mann kennen, der freundlich, beliebt und voller Träume war. Er war Zeit seines Lebens stets ein loyaler Mensch, der die Bedürfnisse und Wünsche anderer immer über die seinen gestellt hat.

Doch durch eine ganze Kette unglücklicher Umstände, fataler Missverständnisse und schließlich schlimmer Unglücksfälle ändert sich Walters Leben schlagartig.

So wird Walter ein einsamer, verbitterter Mensch, seine Devise wird "nicht meine Schuld". Als zwischen Ben und Walter ein reger Briefwechsel entsteht, bald in Form von Emails (sehr amüsant die Idee des Autors. Gottes Email-Adresse <Mein-Gott-Walter@t-online.de> zu nennen), löst sich allmählich Walters innerer Panzer und er wird offener für seine Umwelt und seine Familie.

Leider holt ihn wieder das Schicksal ein ...

Izquierdos neuer Roman ist ein absolut tolles Buch, einfühlsam, auch humorvoll, richtig zu Herzen gehend und auf jeden Fall nicht nur zur Weihnachtszeit zu lesen.

 

Leseempfehlung im März von unserer Leserin Sonar-Diane Gerrish

Stella von Takis Würger (erschienen im Hanser Verlag)

Ein junger Schweizer, der Ich-Erzähler des Romans, kommt aus Berlin im Jahre 1942. Nach einer behüteten, wenn nicht immer glücklichen, Kindheit sucht er das Abenteuer. Er will herausfinden, ob die Geschichte, die er von Berlin gehört hatte, der Wahrheit entspricht.

Er mietet sich in ein nobles Hotel ein, wo die Entbehrungen, die von der Bevölkerung zunehmend wahrgenommen werden - knappe Lebensmittel, wenig Heizmaterial - nicht spürbar werden. Die Rechnungen gehen an seinen Vater. Da seine Mutter Malerin war, meldet er sich bei einer Kunstschule an, um selbst das Malen zu lernen. Dort trifft er auf eine junge Frau namens Kristin, die als Nacktmodell etwas Geld verdient. Er ist von ihr fasziniert. Kristin führt ihn in das Berliner Nachtleben ein. In einem Nachtclub, wo verbotener Jazz gespielt wird, lernen sie Tristan von Appen, einen reichen Adeligen kennen. Danach besteht ihr Leben nur noch aus Tanzen, Austern essen, Champagner trinken und Wochenenden in Tristans Villa. Aber Tristan und Kristin spielen beide eine Rolle. Tristan ist Oberstabführer bei der SS und Kristin heißt in Wahrheit Stella Goldschlag und ist Jüdin. Eines Tages wird ihre wahre Identität durch Denunziation bekannt. Männer in Ledermänteln verhaften sie, bringen sie in einen Keller und foltern sie.

Um die Deportation ihrer Eltern nach Auschwitz zu verhindern, willigt sie ein als sogenannte "Greiferin" zu arbeiten. Sie spürt Juden auf, die sich versteckt halten und verrät sie an die Nazis.

Die Standpunkte über das Buch liegen weit auseinander. Während der Autor Daniel Kehlmann (Die Vermessung der Welt) meint, Würger hat "das unerzählbare erzählt", schreibt die Literaturkritikerin Antonia Baum in der Zeit, das Buch sei "eine absolute Katastrophe". Die Leser:innen sollen selber ihr Urteil fällen.

Nachwort: Am Anfang jedes Kapitels wird die Denunziation eines Juden/einer Jüdin oder einer jüdischen Familie durch einen "Greifer" dokumentiert. Quelle: Die Gerichtsakte eines sowjetischen Militärtribunals.

Nie wieder ist jetzt!!!

Leseempfehlung im Februar von unserer Leserin Helga Seifert

Ellen Sandberg - Keine Reue

Nach außen sind Barbara und Hernot Maienfeld ein wohlsituiertes und glückliches Paar, sie bewohnen in Stuttgart eine Altbauwohnung, lieben sich seit ihrer Studentenzeit und haben drei erwachsene Kinder. Was niemand weiß, in ihrer Vergangenheit liegt ein dunkles Kapitel, das sie jahrelang gut geheim gehalten haben. Als Gernots Ein-Mann-Verlag bankrott geht, müssen sie ihre Geldsorgen lösen und dazu sollen ausgerechnet Kontakte aus der Vergangenheit helfen. Ende der 80er Jahre wohnten die Maienfelds mit ihren Kindern zurückgezogen in der Eifel, um sich dort vor dem Verfassungsgericht zu verstecken, weil sie Verbindungen zur RAF hatten.

Als ihr Sohn Ben Maienfeld Zeuge eines brutalen Überfalls auf eine Frau wird, versucht er vergeblich, ihr zu helfen. Der Täter jedoch gehört einem kriminellen Clan an und so muss Ben, auch wenn er sich an nichts erinnern kann, unter Personenschutz gestellt werden. Zuständig für diesen Mordfall ist Kriminalkommisarin Charlotte Bodmer, die persönliche Gründe hat, dem Tatverdächtigen auf die Schliche zu kommen. Sie übernimmt Bens Personenschutz, der in der Eifel, seiner alten Heimat, Zuflucht findet. Dort übermannen ihn die bisher verdrängten Erinnerungen an seine Kindheit, die nicht dem üblichen Familienleben mit treu sorgenden Eltern entsprechen. Ihre politischen Ansichten und die Hilfe für politische Gefangene standen stets über dem Interesse der Kinder, die vermeintlich antiautoritär erzogen, aber vernachlässigt und mit Härte behandelt wurden.

Ellen Sandberg verbindet in ihrem Roman zwei Zeitstränge miteinander, die Ende der 80er Jahre und in der Gegenwart im November/Dezember 2019 spielen.

Die Geschichte wird jeweils aus der Sicht der verschiedenen Hauptfiguren erzählt. 

Nach und nach erfahren die Leserinnen und Leser die Wahrheit über die dunkle Vergangenheit von Barbara und Gernot. Und beide handeln auch nach so langer Zeit immer noch genauso skrupellos wie früher.

"Keine Reue" ist Familien- und Spannungsroman zugleich und gegenüber anderen Büchern dieser Genres deshalb interessant, weil es die allgemein wenig bekannten Ereignisse um die RAF und die Gesinnung der Menschen in deren Umkreis schildert.

Das Buch ist gut recherchiert, spannend, unterhaltsam und hat wie immer Ellen Sandbergs tollen Erzählstil.

 

Leseempfehlung im Januar von unserer Leserin Helga Seifert

Viveca Sten - Tief im Schatten

Are/Nordschweden: Gerade haben im beliebten Skiort Are die Sportferien begonnen, als ein kleiner Junge und seine Mutter eines morgens eine entstellte Männerleiche finden. Schnell ist das Opfer identifiziert, es handelt sich um den früheren Weltcup-Skifahrer Johan Anderson, der mit seiner Frau in der Umgebung lebt und inzwischen mit seinem Geschäftspartner einen kleinen Installateur-Betrieb führt. Fast zeitgleich verschwindet in einem Nachbarort die Kindergärtnerin Rebecka, die mit dem charismatischen Pastor Ole verheiratet ist. Für die Ermittler Hanna Ahlander und Daniel Lindskog ist es der zweite gemeinsame Fall, der sich schnell zum Wettlauf gegen die Zeit entwickelt, denn Rebecka ist in größter Gefahr ...

Die Geschichte wird in zwei Handlungssträngen erzählt. In dem einen geht es um die Ermittlungen zum Mord an Johan. Diese gestalten sich schwierig, weil anscheinend erst einmal niemand in seinem Umfeld Grund hätte, den freundlichen, hilfsbereiten und überall beliebten Mann zu töten.

Im zweiten wird das Schicksal von Rebecka beschrieben, die in einer kleinen, streng bibeltreuen freikirchlichen Gemeinde lebt. Sie wird im Alter von 18 Jahren mit dem älteren, charismatischen Pastor Ole verheiratet, der in der Gemeinde großes Ansehen genießt, in der Ehe aber immer übergriffiger wird.

Die Spannung baut sich kontinuierlich bis zum fesselnden Ende hin auf. Die Autorin legt verschiedene Fährten aus und somit gibt es nach und nach mehrere Verdächtige, die ein Motiv gehabt haben könnten, Johan zu töten.

Die Charaktere der handelnden Personen sind einfühlsam beschrieben, was einigen Raum einnimmt, aber der Spannung keinen Abbruch tut. Die Ermitttler haben einige Ecken und Kanten, was sie trotzdem oder vielleicht gerade deswegen sympathisch rüberkommen lässt.

Hanna wirkt auf den ersten Blick etwas introvertiert, hat aber das Herz auf dem rechten Fleck und eine gute Spürnase. Bei Daniel fühlt man mit, wie er den Spagat zwischen junger Familie und der zügigen Auflösung dieses Falles hinzubekommen und bei zuviel Stress nicht hitzig zu reagieren versucht.

Die weiteren Figuren sind gut ausgearbeitet, und besonders das Schicksal von Rebecka geht richtig unter die Haut.

Die Autorin kann auch die Atmosphäre des nordischen Winters gut beschreiben, nämlich die Schönheit der Natur, und zugleich die Unbarmherzigkeit der dunklen, eisigen, schneereichen Nächte im hohen Norden.

"Tief im Schatten" ist der zweite Band einer neuen Krimi-Serie der beliebten schwedischen Bestsellerautorin Viveca Sten mit der Hauptprotagonistin Hanna Ahlander (Viveca Stens frühere Krimis mit dem Ermittler Thomas Andreasson und Nora Linde waren die Vorlage für die sehr erfolgreiche Fernsehserie "Mord im Mittsommer"). Man kann das Buch gut lesen ohne den ersten Band zu kennen.

Fesselnder und komplexer Krimi von einer Autorin, die ihr Handwerk versteht. Spannende und unterhaltsame Lesestunden sind garantiert. Absolute Leseempfehlung!

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