drehte sich eine Person mit blonden Dreadlocks auf dem Kopf und braunen Birkenstocks an den Füßen um.
„Musst du das wirklich so negativ sehen?“, Ursula Weide machte eine ausschweifende Bewegung mit ihrem Arm, „Lasst uns alle auf die positiven Dinge im Leben konzentrieren!“ Gut die Hälfte der dösenden Schüler war aus ihrem Halbschlaf erwacht, jedoch nicht wegen der (wie üblich äußerst positiven) Aussage von Ursula. Sie waren hochgeschreckt, weil Nils Slaković zum ersten Mal in seiner Schullaufbahn, während der er in schwarze Kleidung gehüllt war und sich hinter einem Vorhang aus schwarzen, fettigen Haaren versteckte, ein Wort über seine Lippen gebracht hatte. Erst nachdem Ursula ihren Appell an ihre Mitschüler beendet hatte, bemerkte sie, wen sie über den Sinn des Lebens aufklärte. Wie der Rest der Klasse verstummte sie, auch Herr Brandt stand mit ungläubigem Blick vor den Schülern.
„Du...Antwort“, völlig verdattert stotterte er. Ein kurzes Kopfschütteln, einmal durch die Haare fahren und Herr Brandt konnte wieder klare Gedanken fassen.
„Das ist ein guter Einfall“, er lobte Nils leicht, innerlich freute er sich, dass er der erste Lehrer war, der den introvertierten Schüler zu einem Unterrichtsbeitrag anregen konnte. Der Unterricht war ins Stocken geraten und deswegen wandte Herr Brandt sich Florian Klein zu und forderte ihn zum Sprechen auf. Florian, ein Kerl wie ein Schrank, der sich mit seiner Pranke als Hand über das Kinn fuhr, ihm stand ins Gesicht geschrieben, dass sein (überarbeitetes) Gehirn hinter den Schläfen ratterte. Nicht aber, weil er eine wohlüberlegte Antwort geben wollte, sondern weil er einen Wahnsinns Witz machen wollte. Florians angestrengt verzerrtes Gesicht änderte sich in ein spitzbübisches Lächeln, bevor er sichtlich stolz seinen Witz zugute gab: „Unglück ist für mich, wenn wir das nächste Fußballspiel verlieren!“
Von Florians Mannschaftskameraden war Gejohle zuhören und einige Mädchen kicherten schwärmerisch. Herr Brandt verdrehte kaum merklich die Augen und versuchte die Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken. Nahe dem Fenster war ein Murmeln, das (absichtlich oder unabsichtlich) für Florian laut genug war, um es zu hören: „Kann aber auch an deiner nicht vorhandenen Leistung liegen.“
Florian stieg das Blut in den Kopf und ließ diesen feuerrot anlaufen. Seine Lippen klebten aneinander, um einen Wutausbruch zu vermeiden. Langsam presste Florian ein bedrohliches „Was?“ zwischen seinen Lippen hervor. Böses ahnend richtete sich Herr Brandt zu voller Größe auf, um seine Autorität zu unterstreichen, räusperte sich umständlich und sprach schließlich mit einer Lautstärke, die alle Schüler einnahm: „Wie ihr seht, ist Glück ein sehr relativer Begriff. Was Glück ist, entscheidet jeder selbst für sich“, von einem lautem Gong unterbrochen fuhr der Lehrer fort, „Macht euch darüber Gedanken und bringt es zu Papier. Egal ob Mind-Map, Aufsatz oder sonst etwas. Hauptsache ich sehe, dass ihr etwas gemacht habt.“ Wobei Herr Brandt den letzten Satz den bereits hinaus gestürmten Schülern hinterher rufen musste.
Lediglich ein paar Wenige waren noch damit beschäftigt ihre Sachen zupacken. Darunter auch Mia Tritt, sie war diejenige, die vor wenigen Minuten für solch einen Tumult im Klassenzimmer gesorgt hatte. Mit Schwung hievte sie sich ihre mit Büchern vollgestopfte Tasche auf die Schulter und schlängelte sich zwischen den Tischen nach vorne zur Tür des Klassenraums. Gerade war Mia am Lehrerpult vorbei gegangen, als sie die Stimme ihres Lehrers hörte.
„Irgendwann wird er auf dich losgehen!“, Herr Brandt hatte seinen Blick nicht von den Dokumenten in seinen Händen abgewandt. Auch Mia machte keine Anstalten, sich ihrem Lehrer zu zuwenden und flüsterte dem Ausgang entgegen eine kurze Antwort: „Vermutlich.“
Rote High-Heels, schwarzer Minirock, weiße (und transparente) Bluse, rot lackierte Fingernägel, kräftiger Lippenstift, dick umrandete Augen und eine glänzende Haarmähne.
An die Wand des Schulflurs angelehnt checkte Janine Bauer auf ihrem Handy, das in der Innentasche ihrer neuen Michael Kors versteckt war, die aktuellsten Instagram-Posts. Wie auf Kommando stieß sich Janine mit einem Ruck von der Wand ab und stolzierte neben Mia den Gang entlang, mit einem ständigem Klackern im Hintergrund begleitet. Ohne große Umschweifungen kam Janine gleich zu dem Thema, das sie (und den Rest der Schule) derzeit am meisten beschäftigte: „Stell dir vor! Lena Maier hat noch immer kein Date für den Schulball.“
Irritiert und ein klein wenig gekränkt räusperte Mia sich und stupste ihrer Freundin schwach in die Seite. Diese begriff erst nicht, was das sollte, bis es ihr langsam dämmerte: „Du...Dich frägt sicher noch jemand.“ Und mit einem ausholenden Handwinker war dieses Thema vom Tisch.
Janine stürzte sich gerade in einen neuen (und scheinbar endlosen) Monolog über das korrekte Einsetzen von Highlighter, als plötzlich Nils Slaković vor den beiden Freundinnen auftauchte. Er starrt Janine und Mia einfach nur an. Völlig perplex von dieser bizarren Situation, starrten sie einfach nur zurück. Einzelne Laute, die eher dem Grunzen eines Tieres glichen, drangen aus dem Mund von Nils. Angestrengt bewegte er seine Lippen in der Hoffnung, richtige Wörter zu sprechen. Nach weiteren erfolglosen Versuchen, während denen Janine und Mia ihn ungläubig beäugten, gab Nils schlussendlich auf. Er strich sich seinen fettigen Haarvorhang aus dem Gesicht und eilte davon.
Janine blinzelte mehrmals, wodurch ihr Kopf dieses Ereignis verdaute. Sie lag ihre Stirn in Falten und bedauerte Nils zutiefst: „Es muss schwer sein, wenn man stumm ist.“
„Nils Slaković ist nicht stumm!“, erklärte Mia, „Er hat heute im Unterricht gesprochen.“ Janine nickte, wobei sie doch eigentlich ihren Lippenstift in den Tiefen ihrer Tasche suchte. Mia unterdrückte nur schwer ein Grinsen und sprach betont langsam die nächsten Wörter: „Ich glaube er wollte dich fragen, ob du mit ihm zum Ball gehst.“
„Der Emo?“
„Ja.“
„Mhm“, mehr ließ sie nicht vernehmen und Mia wusste sofort, dass das Thema für Janine somit geklärt war.
Sanft kribbelte ihre durch die Sonne gewärmte Haut und die Grashalme kitzelten sie an ihren nackten Füßen. Ursula Weide hatte ihre Sandalen ausgezogen und sich im Schneidersitz auf den Rasen vor der Schule gesetzt. Ihre Augen waren geschlossen und sie atmete tief die Luft ihrer Umgebung ein. Sie roch das frische Gras, die wunderschön blühenden Blumen und den angenehmen Duft von frisch geerntetem Gemüse, der aus dem Schulgarten drang. Den Frittengeruch der Cafeteria, die Rauchschwaden der älteren Schüler und den stinkenden Geruch von mehreren Dutzend verschwitzten Schülern ignorierte Ursula einfach. In diesem Moment war sie glücklich, sie bemerkte all die Schüler um sie herum nicht, wie sie Ursula angafften und sich über sie lustig machten. Für Ursula war es das größte Glück in Trance zu verfallen. Denn auch wenn sie es niemals zugeben würde, von Zeit zu Zeit schlich sich der Gedanke bei ihr ein, dass sie aufgeben sollte, ihren Mitmenschen den inneren Frieden darzubringen. Aber Momente, wie dieser es war, in denen Ursula durch und durch von positiver Energie erfüllt war, ließen sie diese bösen Überlegungen vergessen.
Gedemütigt und vor Schamröte glühend hatte Nils Slaković sich in seinen üblichen Unterschlupf zurückgezogen. Eine kleine Holzhütte, die am äußersten Rand des Schulgeländes stand. Die Zentimeter dicke Staubschicht und die unzähligen Spinnweben in den Ecken ließen darauf hindeuten, dass dieser Geräteschuppen längst vergessen war. Nur in einer winzigen Ecke, die nicht mit alten Spaten und Rechen vollgestopft war, konnte man im Staub Abdrücke erkennen. An diesem Ort zog Nils sich zurück, wenn ihm in der Schule die Decke auf den Kopf fiel. Selbst wenn er Zuhause mit seinen Eltern Streit hatte, legte er die sieben Kilometer zu Fuß zurück. Hier fühlte er sich wohl und genau so wollte sich Nils wieder fühlen. Er fasste es immer noch nicht, dass er in der Schule gesprochen hatte. Aber es kam einfach über ihn. Er musste es einfach sagen. Das unglücklichste, das einem Menschen wieder fahren kann, ist der Tod. Egal in welcher Form, ob es der eigene war, ob man einen geliebten Menschen verlor oder ob man selbst für das Ende eines Lebens verantwortlich war. Wie Nils, Nils der vor drei Jahren seinen sechs jährigem Bruder sterben hat lassen.
Nils kauerte sich in seiner Ecke noch kleiner zusammen und seine Arme und Beine verkrampften sich schmerzlich. Erinnerungen blitzten in seinem Kopf auf. Verschwommen und unklar. Langsam klarten sie auf und Nils sah ihn vor sich. Wie er mit seinem unvergesslich ansteckenden Lachen lief, er war glücklich. Niels wollte damals nicht mit seinem kleinen Bruder spazieren gehen. Er hatte ihm bereits den Rücken zugekehrt, als er ein schrilles Hupen hinter sich hörte. Und noch bevor Nils sich umdrehte, wusste er es.
Nils war wieder in dem heruntergekommenen Schuppen, in seiner Ecke. Durch die aufgeflammte Erinnerung hatten sich Tränen in seinen Augen gesammelt. Jedoch brachen sie nicht aus und flossen nicht warm über Nils‘ Wangen, die Tränen stauten sich auf. Er konnte nicht weinen. Er hatte es nicht verdient, dass er mit den fallenden Tränen die angesammelte Trauer verlor.
Mit dem Anflug von Selbstvertrauen, welches er durch seinen Beitrag im Unterricht gewonnen hatte, hatte Nils gedacht, er könne versuchen wieder ein wenig Glück in sein Leben zu lassen. Tatsächlich war er auf Janine Bauer zugegangen, er wollte mit ihr ausgehen. Aber kaum war er vor ihr gestanden, waren Bilder von seinem Bruder aufgetaucht. Wie er lacht und sich zur Sonne dreht. Nils hatte gewusst, sein Bruder würde nie mit einem Mädchen ausgehen können, also konnte Nils das auch nicht.
Er hatte die Arme um seine Knie geschlungen und wippte vor und zurück.
Draußen war überraschend ein Sommergewitter ausgebrochen. Der Regen prasselte hart gegen die verdreckten Fensterscheiben und der Wind pfiff unheilvoll durch die Schlitze der Hütte. Nils wusste nicht, dass es regnete, bis eine tropfnasse Lena Maier die verzogene Tür aufgedrückt hatte und sich in die Trockenheit rettete. Gestört in seiner Einsamkeit schreckte Nils auf. Er sah Lena ins Gesicht. Auf ihren Wangen konnte er glänzende Bahnen erkennen, die nicht von den Regentropfen stammten. Lenas Augen waren gerötet und Nils fielen ihre verrutschten Klamotten auf.
Ihre Augen suchten Nils völlig verschreckt und verstört ab, aber er wusste, sie hatte nicht vor ihm Angst.
Lenas Gedanken spielten verrückt. Vor ihrem inneren Auge sah sie auf Wiederholschleife, was noch vor wenigen Minuten passiert war. Er war auf einmal hinter ihr gestanden und seine Pranken hatten sie grob gepackt. Erst hatte Lena gedacht, er mache nur Spaß, aber er hatte sie mehr und mehr bedrängt. Lena wusste nicht mehr, wie sie ihm entkommen war.
Nils Slaković war keine Person, die sie jetzt sehen wollte, er wirkte noch ängstlicher als sie selbst.
„Vielleicht wegen dem Gewitter“, dachte Lena. Ohne Kontrolle über ihre Taten warf sie sich Nils in die Arme und begann zu weinen wie das Gewitter, das am Himmel tobte.
Alle Schüler waren vor den plötzlichen Wassermassen, die sich über sie ergossen hatten, geflohen und hatten sich untergestellt. Die Schulgänge waren zum Bersten gefüllt, weswegen einige wenige unter dem Vordach standen. So auch Janine Bauer und Mia Tritt. Während Janine wütend andere Schüler anschrie, sie sollen doch Platz machen, ließ Mia ihren Blick über den Platz vor der Schule gleiten. Zwischen zwei Bäumen sah sie eine Person am Boden sitzen. Es war Ursula Weide. Mia war vorhin an ihr vorbei gegangen und hatte sie für ihre Gelassenheit bewundert. Seltsamerweise saß Ursula noch immer seelenruhig an genau dieser Stelle, obwohl es in Strömen regnete. Ohne groß zu überlegen sprintete Mia los. Sie spürte, wie die Nässe außergewöhnlich schnell durch ihr T-Shirt drang, das nur nach kürzester Zeit an ihrem Körper klebte. Sie hatte Ursula erreicht und wollte sie mit unter das schützende Dach nehmen, also berührte Mia leicht ihre Schulter. Aber Ursula reagierte nicht. Mia schüttelte ihren Körper ein wenig. Keine Reaktion. Mia war bis auf ihre Unterwäsche nass geworden und zitterte am ganzen Leib. Vom Schulgebäude hörte sie die Rufe ihrer Freundin. Langsam kam ihr, dass es eine dumme Idee gewesen war. Wenn der Regen Ursula nicht zum Gehen gebracht hatte, würde Mia es auch nicht schaffen.
Ohne es noch ein letztes Mal zu versuchen, legte Mia noch einmal einen Sprint hin und erreichte klitschnass den Eingang.
Janine und die anderen waren von draußen verschwunden, deshalb steuerte Mia direkt auf die große Tür zu. In der Sekunde, in der Mia sie erreichte, öffnete Florian Klein die Tür von innen. Mia wollte nichts lieber als hinein ins Warme, aber Florian versperrte ihr den Durchgang.
„B-b-bit-t-te...“, bibberte Mia ihm entgegen, doch er grinste nur dreckig. Florian drückte seinen monströsen Körper nah an ihren und sagte fordernd: „Ich lasse dich durch, wenn du mit mir zum Ball gehst.“
Verdattert blickte Mia in sein Gesicht, sein schiefes Grinsen war noch breiter geworden. Mia wusste, es würde nichts nützen und sie wollte unbedingt nach Drinnen. Um trotzdem Stärke zu beweisen, presste Mia ihre Zähne aufeinander und zischte ein kurzes „Ja“.
Janine Bauer hatte sich ins Warme gedrängelt, auch wenn sie nur einen schlechten Platz neben der Tür erreicht hatte. Ihre Stimmung besserte sich schlagartig, weil sie Mia durch die Eingangstür gehen sah. Janine winkte ihre Freundin zu sich herüber und diese trottete niedergeschlagen auf sie zu.
„Du warst dumm. Einfach raus zu laufen!“, war das Einzige was Janine für Mia übrig hatte. Wie üblich antwortete Mia nicht auf den bissigen Kommentar ihrer Freundin. Diese schien ihre unglückliche Stimmung nicht zu bemerken und fuhr ohne Pause mit dem neusten Tratsch fort.
„Zwischen dem Emo und Lena Maier soll es in einem Geräteschuppen heiß hergegangen sein!“ Ohne dass sie überhaupt eine Antwort abgewartet hätte, sprach Janine weiter, „Sogar Lena Maier ist für Nils Slaković ein großes Glück.“
„Ich geh mit Florian zum Ball“, rutschte es aus Mia (keineswegs erfreut) raus.
„Klein?“, ungläubig zog Janine eine Augenbraue hoch, „Du Glückliche. Aber ich auch. Dieses Wochenende verbringe ich mit einem Älteren!“
Ihre Augen auf den Boden fixiert flüsterte Mia: „Ich habe kein Glück.“
„Was bedeutet Glück für euch?“
Stille. Papierrascheln. Stühlerücken. Stille.
„Versuchen wir es anders. Was bedeutet Unglück für euch?“
„Tod!“, schallte es sofort aus den hinteren Reihen nach vorne. Ein genervtes Schnauben war aus der ersten Reihe zu hören und unter dem bedrohlichen Schwanken des alten Schulstuhls drehte sich eine Person mit blonden Dreadlocks auf dem Kopf und braunen Birkenstocks an den Füßen um.
„Musst du das wirklich so negativ sehen?“, Ursula Weide machte eine ausschweifende Bewegung mit ihrem Arm, „Lasst uns alle auf die positiven Dinge im Leben konzentrieren!“ Gut die Hälfte der dösenden Schüler war aus ihrem Halbschlaf erwacht, jedoch nicht wegen der (wie üblich äußerst positiven) Aussage von Ursula. Sie waren hochgeschreckt, weil Nils Slaković zum ersten Mal in seiner Schullaufbahn, während der er in schwarze Kleidung gehüllt war und sich hinter einem Vorhang aus schwarzen, fettigen Haaren versteckte, ein Wort über seine Lippen gebracht hatte. Erst nachdem Ursula ihren Appell an ihre Mitschüler beendet hatte, bemerkte sie, wen sie über den Sinn des Lebens aufklärte. Wie der Rest der Klasse verstummte sie, auch Herr Brandt stand mit ungläubigem Blick vor den Schülern.
„Du...Antwort“, völlig verdattert stotterte er. Ein kurzes Kopfschütteln, einmal durch die Haare fahren und Herr Brandt konnte wieder klare Gedanken fassen.
„Das ist ein guter Einfall“, er lobte Nils leicht, innerlich freute er sich, dass er der erste Lehrer war, der den introvertierten Schüler zu einem Unterrichtsbeitrag anregen konnte. Der Unterricht war ins Stocken geraten und deswegen wandte Herr Brandt sich Florian Klein zu und forderte ihn zum Sprechen auf. Florian, ein Kerl wie ein Schrank, der sich mit seiner Pranke als Hand über das Kinn fuhr, ihm stand ins Gesicht geschrieben, dass sein (überarbeitetes) Gehirn hinter den Schläfen ratterte. Nicht aber, weil er eine wohlüberlegte Antwort geben wollte, sondern weil er einen Wahnsinns Witz machen wollte. Florians angestrengt verzerrtes Gesicht änderte sich in ein spitzbübisches Lächeln, bevor er sichtlich stolz seinen Witz zugute gab: „Unglück ist für mich, wenn wir das nächste Fußballspiel verlieren!“
Von Florians Mannschaftskameraden war Gejohle zuhören und einige Mädchen kicherten schwärmerisch. Herr Brandt verdrehte kaum merklich die Augen und versuchte die Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken. Nahe dem Fenster war ein Murmeln, das (absichtlich oder unabsichtlich) für Florian laut genug war, um es zu hören: „Kann aber auch an deiner nicht vorhandenen Leistung liegen.“
Florian stieg das Blut in den Kopf und ließ diesen feuerrot anlaufen. Seine Lippen klebten aneinander, um einen Wutausbruch zu vermeiden. Langsam presste Florian ein bedrohliches „Was?“ zwischen seinen Lippen hervor. Böses ahnend richtete sich Herr Brandt zu voller Größe auf, um seine Autorität zu unterstreichen, räusperte sich umständlich und sprach schließlich mit einer Lautstärke, die alle Schüler einnahm: „Wie ihr seht, ist Glück ein sehr relativer Begriff. Was Glück ist, entscheidet jeder selbst für sich“, von einem lautem Gong unterbrochen fuhr der Lehrer fort, „Macht euch darüber Gedanken und bringt es zu Papier. Egal ob Mind-Map, Aufsatz oder sonst etwas. Hauptsache ich sehe, dass ihr etwas gemacht habt.“ Wobei Herr Brandt den letzten Satz den bereits hinaus gestürmten Schülern hinterher rufen musste.
Lediglich ein paar Wenige waren noch damit beschäftigt ihre Sachen zupacken. Darunter auch Mia Tritt, sie war diejenige, die vor wenigen Minuten für solch einen Tumult im Klassenzimmer gesorgt hatte. Mit Schwung hievte sie sich ihre mit Büchern vollgestopfte Tasche auf die Schulter und schlängelte sich zwischen den Tischen nach vorne zur Tür des Klassenraums. Gerade war Mia am Lehrerpult vorbei gegangen, als sie die Stimme ihres Lehrers hörte.
„Irgendwann wird er auf dich losgehen!“, Herr Brandt hatte seinen Blick nicht von den Dokumenten in seinen Händen abgewandt. Auch Mia machte keine Anstalten, sich ihrem Lehrer zu zuwenden und flüsterte dem Ausgang entgegen eine kurze Antwort: „Vermutlich.“
Rote High-Heels, schwarzer Minirock, weiße (und transparente) Bluse, rot lackierte Fingernägel, kräftiger Lippenstift, dick umrandete Augen und eine glänzende Haarmähne.
An die Wand des Schulflurs angelehnt checkte Janine Bauer auf ihrem Handy, das in der Innentasche ihrer neuen Michael Kors versteckt war, die aktuellsten Instagram-Posts. Wie auf Kommando stieß sich Janine mit einem Ruck von der Wand ab und stolzierte neben Mia den Gang entlang, mit einem ständigem Klackern im Hintergrund begleitet. Ohne große Umschweifungen kam Janine gleich zu dem Thema, das sie (und den Rest der Schule) derzeit am meisten beschäftigte: „Stell dir vor! Lena Maier hat noch immer kein Date für den Schulball.“
Irritiert und ein klein wenig gekränkt räusperte Mia sich und stupste ihrer Freundin schwach in die Seite. Diese begriff erst nicht, was das sollte, bis es ihr langsam dämmerte: „Du...Dich frägt sicher noch jemand.“ Und mit einem ausholenden Handwinker war dieses Thema vom Tisch.
Janine stürzte sich gerade in einen neuen (und scheinbar endlosen) Monolog über das korrekte Einsetzen von Highlighter, als plötzlich Nils Slaković vor den beiden Freundinnen auftauchte. Er starrt Janine und Mia einfach nur an. Völlig perplex von dieser bizarren Situation, starrten sie einfach nur zurück. Einzelne Laute, die eher dem Grunzen eines Tieres glichen, drangen aus dem Mund von Nils. Angestrengt bewegte er seine Lippen in der Hoffnung, richtige Wörter zu sprechen. Nach weiteren erfolglosen Versuchen, während denen Janine und Mia ihn ungläubig beäugten, gab Nils schlussendlich auf. Er strich sich seinen fettigen Haarvorhang aus dem Gesicht und eilte davon.
Janine blinzelte mehrmals, wodurch ihr Kopf dieses Ereignis verdaute. Sie lag ihre Stirn in Falten und bedauerte Nils zutiefst: „Es muss schwer sein, wenn man stumm ist.“
„Nils Slaković ist nicht stumm!“, erklärte Mia, „Er hat heute im Unterricht gesprochen.“ Janine nickte, wobei sie doch eigentlich ihren Lippenstift in den Tiefen ihrer Tasche suchte. Mia unterdrückte nur schwer ein Grinsen und sprach betont langsam die nächsten Wörter: „Ich glaube er wollte dich fragen, ob du mit ihm zum Ball gehst.“
„Der Emo?“
„Ja.“
„Mhm“, mehr ließ sie nicht vernehmen und Mia wusste sofort, dass das Thema für Janine somit geklärt war.
Sanft kribbelte ihre durch die Sonne gewärmte Haut und die Grashalme kitzelten sie an ihren nackten Füßen. Ursula Weide hatte ihre Sandalen ausgezogen und sich im Schneidersitz auf den Rasen vor der Schule gesetzt. Ihre Augen waren geschlossen und sie atmete tief die Luft ihrer Umgebung ein. Sie roch das frische Gras, die wunderschön blühenden Blumen und den angenehmen Duft von frisch geerntetem Gemüse, der aus dem Schulgarten drang. Den Frittengeruch der Cafeteria, die Rauchschwaden der älteren Schüler und den stinkenden Geruch von mehreren Dutzend verschwitzten Schülern ignorierte Ursula einfach. In diesem Moment war sie glücklich, sie bemerkte all die Schüler um sie herum nicht, wie sie Ursula angafften und sich über sie lustig machten. Für Ursula war es das größte Glück in Trance zu verfallen. Denn auch wenn sie es niemals zugeben würde, von Zeit zu Zeit schlich sich der Gedanke bei ihr ein, dass sie aufgeben sollte, ihren Mitmenschen den inneren Frieden darzubringen. Aber Momente, wie dieser es war, in denen Ursula durch und durch von positiver Energie erfüllt war, ließen sie diese bösen Überlegungen vergessen.
Gedemütigt und vor Schamröte glühend hatte Nils Slaković sich in seinen üblichen Unterschlupf zurückgezogen. Eine kleine Holzhütte, die am äußersten Rand des Schulgeländes stand. Die Zentimeter dicke Staubschicht und die unzähligen Spinnweben in den Ecken ließen darauf hindeuten, dass dieser Geräteschuppen längst vergessen war. Nur in einer winzigen Ecke, die nicht mit alten Spaten und Rechen vollgestopft war, konnte man im Staub Abdrücke erkennen. An diesem Ort zog Nils sich zurück, wenn ihm in der Schule die Decke auf den Kopf fiel. Selbst wenn er Zuhause mit seinen Eltern Streit hatte, legte er die sieben Kilometer zu Fuß zurück. Hier fühlte er sich wohl und genau so wollte sich Nils wieder fühlen. Er fasste es immer noch nicht, dass er in der Schule gesprochen hatte. Aber es kam einfach über ihn. Er musste es einfach sagen. Das unglücklichste, das einem Menschen wieder fahren kann, ist der Tod. Egal in welcher Form, ob es der eigene war, ob man einen geliebten Menschen verlor oder ob man selbst für das Ende eines Lebens verantwortlich war. Wie Nils, Nils der vor drei Jahren seinen sechs jährigem Bruder sterben hat lassen.
Nils kauerte sich in seiner Ecke noch kleiner zusammen und seine Arme und Beine verkrampften sich schmerzlich. Erinnerungen blitzten in seinem Kopf auf. Verschwommen und unklar. Langsam klarten sie auf und Nils sah ihn vor sich. Wie er mit seinem unvergesslich ansteckenden Lachen lief, er war glücklich. Niels wollte damals nicht mit seinem kleinen Bruder spazieren gehen. Er hatte ihm bereits den Rücken zugekehrt, als er ein schrilles Hupen hinter sich hörte. Und noch bevor Nils sich umdrehte, wusste er es.
Nils war wieder in dem heruntergekommenen Schuppen, in seiner Ecke. Durch die aufgeflammte Erinnerung hatten sich Tränen in seinen Augen gesammelt. Jedoch brachen sie nicht aus und flossen nicht warm über Nils‘ Wangen, die Tränen stauten sich auf. Er konnte nicht weinen. Er hatte es nicht verdient, dass er mit den fallenden Tränen die angesammelte Trauer verlor.
Mit dem Anflug von Selbstvertrauen, welches er durch seinen Beitrag im Unterricht gewonnen hatte, hatte Nils gedacht, er könne versuchen wieder ein wenig Glück in sein Leben zu lassen. Tatsächlich war er auf Janine Bauer zugegangen, er wollte mit ihr ausgehen. Aber kaum war er vor ihr gestanden, waren Bilder von seinem Bruder aufgetaucht. Wie er lacht und sich zur Sonne dreht. Nils hatte gewusst, sein Bruder würde nie mit einem Mädchen ausgehen können, also konnte Nils das auch nicht.
Er hatte die Arme um seine Knie geschlungen und wippte vor und zurück.
Draußen war überraschend ein Sommergewitter ausgebrochen. Der Regen prasselte hart gegen die verdreckten Fensterscheiben und der Wind pfiff unheilvoll durch die Schlitze der Hütte. Nils wusste nicht, dass es regnete, bis eine tropfnasse Lena Maier die verzogene Tür aufgedrückt hatte und sich in die Trockenheit rettete. Gestört in seiner Einsamkeit schreckte Nils auf. Er sah Lena ins Gesicht. Auf ihren Wangen konnte er glänzende Bahnen erkennen, die nicht von den Regentropfen stammten. Lenas Augen waren gerötet und Nils fielen ihre verrutschten Klamotten auf.
Ihre Augen suchten Nils völlig verschreckt und verstört ab, aber er wusste, sie hatte nicht vor ihm Angst.
Lenas Gedanken spielten verrückt. Vor ihrem inneren Auge sah sie auf Wiederholschleife, was noch vor wenigen Minuten passiert war. Er war auf einmal hinter ihr gestanden und seine Pranken hatten sie grob gepackt. Erst hatte Lena gedacht, er mache nur Spaß, aber er hatte sie mehr und mehr bedrängt. Lena wusste nicht mehr, wie sie ihm entkommen war.
Nils Slaković war keine Person, die sie jetzt sehen wollte, er wirkte noch ängstlicher als sie selbst.
„Vielleicht wegen dem Gewitter“, dachte Lena. Ohne Kontrolle über ihre Taten warf sie sich Nils in die Arme und begann zu weinen wie das Gewitter, das am Himmel tobte.
Alle Schüler waren vor den plötzlichen Wassermassen, die sich über sie ergossen hatten, geflohen und hatten sich untergestellt. Die Schulgänge waren zum Bersten gefüllt, weswegen einige wenige unter dem Vordach standen. So auch Janine Bauer und Mia Tritt. Während Janine wütend andere Schüler anschrie, sie sollen doch Platz machen, ließ Mia ihren Blick über den Platz vor der Schule gleiten. Zwischen zwei Bäumen sah sie eine Person am Boden sitzen. Es war Ursula Weide. Mia war vorhin an ihr vorbei gegangen und hatte sie für ihre Gelassenheit bewundert. Seltsamerweise saß Ursula noch immer seelenruhig an genau dieser Stelle, obwohl es in Strömen regnete. Ohne groß zu überlegen sprintete Mia los. Sie spürte, wie die Nässe außergewöhnlich schnell durch ihr T-Shirt drang, das nur nach kürzester Zeit an ihrem Körper klebte. Sie hatte Ursula erreicht und wollte sie mit unter das schützende Dach nehmen, also berührte Mia leicht ihre Schulter. Aber Ursula reagierte nicht. Mia schüttelte ihren Körper ein wenig. Keine Reaktion. Mia war bis auf ihre Unterwäsche nass geworden und zitterte am ganzen Leib. Vom Schulgebäude hörte sie die Rufe ihrer Freundin. Langsam kam ihr, dass es eine dumme Idee gewesen war. Wenn der Regen Ursula nicht zum Gehen gebracht hatte, würde Mia es auch nicht schaffen.
Ohne es noch ein letztes Mal zu versuchen, legte Mia noch einmal einen Sprint hin und erreichte klitschnass den Eingang.
Janine und die anderen waren von draußen verschwunden, deshalb steuerte Mia direkt auf die große Tür zu. In der Sekunde, in der Mia sie erreichte, öffnete Florian Klein die Tür von innen. Mia wollte nichts lieber als hinein ins Warme, aber Florian versperrte ihr den Durchgang.
„B-b-bit-t-te...“, bibberte Mia ihm entgegen, doch er grinste nur dreckig. Florian drückte seinen monströsen Körper nah an ihren und sagte fordernd: „Ich lasse dich durch, wenn du mit mir zum Ball gehst.“
Verdattert blickte Mia in sein Gesicht, sein schiefes Grinsen war noch breiter geworden. Mia wusste, es würde nichts nützen und sie wollte unbedingt nach Drinnen. Um trotzdem Stärke zu beweisen, presste Mia ihre Zähne aufeinander und zischte ein kurzes „Ja“.
Janine Bauer hatte sich ins Warme gedrängelt, auch wenn sie nur einen schlechten Platz neben der Tür erreicht hatte. Ihre Stimmung besserte sich schlagartig, weil sie Mia durch die Eingangstür gehen sah. Janine winkte ihre Freundin zu sich herüber und diese trottete niedergeschlagen auf sie zu.
„Du warst dumm. Einfach raus zu laufen!“, war das Einzige was Janine für Mia übrig hatte. Wie üblich antwortete Mia nicht auf den bissigen Kommentar ihrer Freundin. Diese schien ihre unglückliche Stimmung nicht zu bemerken und fuhr ohne Pause mit dem neusten Tratsch fort.
„Zwischen dem Emo und Lena Maier soll es in einem Geräteschuppen heiß hergegangen sein!“ Ohne dass sie überhaupt eine Antwort abgewartet hätte, sprach Janine weiter, „Sogar Lena Maier ist für Nils Slaković ein großes Glück.“
„Ich geh mit Florian zum Ball“, rutschte es aus Mia (keineswegs erfreut) raus.
„Klein?“, ungläubig zog Janine eine Augenbraue hoch, „Du Glückliche. Aber ich auch. Dieses Wochenende verbringe ich mit einem Älteren!“
Ihre Augen auf den Boden fixiert flüsterte Mia: „Ich habe kein Glück.“